Heikenwaelder Hugo: Sirmione


„Sirmione“ – Erinnerung einer Reise nach Italien. – Aquarell und Zeichnung von Hugo Heikenwaelder

Wir schreiben den 29. März 1991, es ist der Karfreitag vor dem heiligen Osterfest, und mein enger Freund Giorgio, der als Generaldirektor für einen großen italienischen Tech-Konzern in Wien tätig ist, hat mich eingeladen mit ihm in seine Heimat nach Cremona zu fahren, wo seine Schwester Laura und ihrer beiden Mutter zu Hause sind.
Diese Reise sollte nicht nur zu einem Ausflug nach Italien werden, so wie ihn schon der Maler Albrecht Dürer im Jahr 1494 und der Dichter und Geheimrat Johann Wolfgang von Goethe im Jahre 1786 unternommen haben, sondern es sollte auch eine geheimnisvolle Reise in die Tiefen meines Unterbewußtseins werden.

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Als wir also an besagtem Karfreitag um 6 Uhr früh in Giorgios rotem Alfa-Romeo-Cabrio in Wien losfuhren, um über Graz, Klagenfurt, Udine, vorbei an Venedig und Verona in die Welthauptstadt des Geigenbaus nach Cremona zu gelangen, wo vor über 400 Jahren die Familien Stradivari, Amati und Guaneri ihre bis heute unerreichten Instrumente bauten, ahnte ich nicht, was mir an diesem stillen Trauertag vor Ostern in Sirmione, dieser einzigartigen Stadt am Südufer des Gardasees, widerfahren sollte.
Nach gut 7 Stunden Fahrt voller Gespräche und Anekdoten erreichten wir gegen halbzwei Uhr am frühen Nachmittag Sirmione, wo wir beschlossen hatten zu Mittag zu essen.
Nicht weit von der Pfarrkirche Santa Maria Maggiore, etwas nördlich davon, servierte man uns in einem freundlichem, rustikalem Restaurant auf der Gartenterrasse köstlich zubereitete Fischgerichte mit dem passenden Weisswein dazu, die uns für den Rest des Tages mit der nötigen Energie versorgen sollten.
Nach einer Stunde, so gegen halbdrei, nachdem wir zu Ende gespeist hatten, bat ich Giorgio um eine Auszeit, denn ich war müde vom stundenlangen reden und erzählen.
Ich spazierte südwärts, vorbei an der Kirche Santa Maria Maggiore, bog dann ein in die Via Dante und wurde plötzlich wie von einem Blitz getroffen.
Ich sah ein großes gelbes Haus, mit einer ebenerdigen Eisdiele, und pötzlich wußte ich mit absoluter Gewissheit, dass ich in diesem Haus in einem weit zurückliegenden Leben, bereits einmal gelebt hatte ! Es war wie ein Schock.
In diesem Moment, es war gerade 15 Uhr, die Todesstunde Jesu, fingen plötzlich alle Kirchenglocken gleichzeitig zu läuten an.
Geradezu taumelnd setzte ich mich auf eine dastehende leere Parkbank, und verfiel, durch dieses dröhnende Geläute wie erschlagen und hypnotisiert, sofort in eine eigenartige tiefe Trance, wie ich sie noch nie erlebt hatte.
Plötzlich befand ich mich in einer Art Edelstein-Korridor, an dessen Ende sich eine helle Lapislazuli-Tür öffnete und ich in ein lichtblaues Meer fiel und darin versank.
Eine unwiderstehliche Kraft zog mich nach unten in eine unergründliche Tiefe, es blieb aber hell und ich sah immer noch den blauen Himmel, durch die immer dichter werdende Wasserschicht. Jahre glitten an mir vorbei, Jahrzehnte, dann Jahrhunderte, dann Jahrtausende. Dann wurde mir wie durch ein drittes imaginäres Auge klar, dass ich ein vorsprachliches Zeitalter erreicht hatte, und dennoch ging es immer weiter nach unten in diese imaginäre Tiefe, hunderttausende Jahre zurück, bis dieser Sinkflug plötzlich endete, und ich mich mit einer bläulich-grünen Wasserschildkröte Auge in Auge wiederfand. Sie sah mich an wie einen Vertrauten und ich erschrak, als ich feststellte, dass auch ich die Form einer Wasserschildkröte angenommen hatte und mich mein Gegenüber wohl als ihren hundertjährigen Gefährten und Begleiter wahrnahm. Gemeinsam begannen wir, sie auf meinem Rücken festgeklammert, mit dem Aufstieg in Richtung Wasser-Oberfläche. Da verliert sich meine Erinnerung, die erst wieder einsetzt, als ich aus dem Wasser steige und mein gelbes Haus betrete, in dem ich zu wohnen scheine. Die Strassen, Plätze und Häuser wirken wie um das Jahr 1500, es ist helle, heisse Mittagszeit, der Himmel ist blau und ich spreche ein Italienisch, wie es offenbar in der Renaissance üblich war. Eine schöne Frau mit langen roten Haare in einer mir unbekannten Tracht begrüßt mich und bittet mich zu Tisch, denn mein Essen sei fertig. Im Nebenraum erkenne ich ein Maler-Atelier mit einer Art toskanischer Landschaft auf einer edlen Holz-Staffelei, ein farbenprächtiges, unfertiges Bild, ungerahmt und noch in Arbeit. Es scheint mein Werk zu sein, denn der Anblick ist mir vertraut, und eine innere Stimme drängt mich zum Weitermalen.
In diesem Augenblick hören plötzlich die Glocken alle zu läuten auf, – ich erwache blitzartig aus meiner Trance und finde mich von einer Sekunde auf die andere wieder im Jetzt, in Sirmione, auf einer weissen Bank, im Anblick eines Hauses, von dem ich weiß, dass es einmal, vor langer Zeit meine Wohnstatt war.
Ich bin wie erschlagen von dieser Erkenntnis und meiner halbstündigen Reise in die Vergangenheit.
Mein Herz schlägt wie wild. Noch nie hatte ich eine so tiefe zeitliche Regression erlebt. Bis dahin gab es in meinem Leben nur einige wenige Déjà-vue-Erlebnisse, wie sie schon vielen Menschen widerfahren sind, aber noch niemals so etwas Einzigartiges, Tiefes, jenseits der Sprachgrenze bis ins Kreatürliche hinabreichend, ins Vorsintflutliche, ins fernste Tierreich und wieder zurück. Wie eingepackt in einen dichten Kokon war ich hinabgesunken in meine Ur-Erinnerung, konnte mich umsehen, alles wahrnehmen, wieder auftauchen, und wie nach einem erfrischenden Bad im Meer aus dem Wasser steigen, mein Haus aufsuchen und betreten, wo man mich in einem der oberen Stockwerke mit der Selbstverständlichkeit eines Ehemanns und Familien-Oberhauptes begrüßte.
Langsam erholte ich mich, immer noch auf der Parkbank sitzend. Ich war 42 Jahre alt, Kunstmaler in Wien, war weder in irgendeiner Weise religiös oder esoterisch, aber dennoch hatte ich soeben eine tiefe metaphysische Erfahrung gemacht, die mein Leben schlagartig veränderte und mich für immer demütig machte. Seitdem spende ich jedes Jahr für die Rettung der bedrohten Meeresschildkröten und versteh mich als ihresgleichen.
Langsam spazierte ich zurück ins Restaurant, wo Giorgio saß und auf mich wartete, – er winkte mir, als er mich kommen sah, und deutete mir, dass ich gleich zum Auto gehen sollte.
Ich sprach kein Wort. Giorgio fragte mich nach meinen Eindrücken von Sirmione, und ich sagte : „Giorgio, glaub mir, – es war ein echtes Erlebnis. Danke, dass Du mich alleine hast gehen lassen !“ – „Aber klar doch, mein Freund, – Du weißt ja, ich habe das Gefühl, Dich schon 200 Jahre zu kennen, – und wenn Du den Wunsch hast, einen Moment für Dich alleine zu sein, in einer fremden Stadt, so verstehe ich das vollkommen. Da fällt mir ein : Hast Du Dein Bild mit dem Titel ‚Wer einsam wandert, wandert lang‘ eigentlich schon verkauft, oder ist es noch zu haben ?“ – Ich winkte ab, – ich hab es noch, sagte ich zu Giorgio, – und während ich hier sitze, im Oktober 2023, und das erste Mal in meinem Leben über dieses metaphysische Ereignis berichte, fällt mein Blick an die Wand über meinem Bildschirm, und da hängt es immer noch, mein unverkäufliches Bild und Vermächtnis: „Wer einsam wandert, wandert lang.“
Und mit dieser heutigen Geschichte endet mein über 30-jähriges Schweigen über dieses Ereignis. Es ist exakt so geschehen, wie hier beschrieben. Nie wieder habe ich Ähnliches erlebt, weder davor noch danach, und vielleicht war es auch nur ein geheimes Zeichen des Unerforschlichen an einen damals ziemlich eingebildeten Künstler, um ihn etwas einzubremsen und ihm zu zeigen, dass es mehr gibt zwischen Himmel und Erde, als die Hybris und den Größenwahn eines wiener Malers am Höhepunkt seiner Karriere.
In diesem Sinne, liebe Freunde, hoffe ich auch für euch, dass es Wendepunkte in eurem Leben gegeben hat, die euch demütiger und menschlicher haben werden lassen, so wie es auch mir geschehen ist.
Ich denke an euch alle. Wir sind vereint in einem gemeinsamen Dasein, einem kurzen, kosmischen Augenblick der Weltgeschichte, der fortschreitet in eine ungewisse Zukunft, von der wir alle hoffen, dass es für jeden Einzelnen Augenblicke des Glücks, der Erfüllung und des inneren Friedens geben wird, – so wie es mir vergönnt war und noch ist.
Ein schönes Wochenende, – wie immer -, wünscht euch in stiller Dankbarkeit und metaphysischer Erinnerung, – euer Maler, Zeichner, und Kleckser – Hugo von Kritzelflink



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