„Schutzengel“ – Aquarell und Zeichnung von Hugo Heikenwaelder
Aquarell von Hugo Heikenwälder
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Niemand kann die feinen Fäden des Schicksals entwirren, die unser Leben zusammenhalten, und niemand vermag die geheimnisvolle Struktur unseres Lebensbaumes unter der fein ziselierten Oberfläche unseres Daseins zu erkennen. Man sieht die Rinde und glaubt, dies sei der Baum. Vielleicht eröffnet sich uns im letzten Augenblick unseres Seins und Vergehens der Zusammenhang zwischen unserer Seele und dem Mysterium unserer Existenz. Millionen Entscheidungen haben unsere Vita geprägt. Warum haben wir die naheliegenden Wege oft verlassen und sind in verwinkelten Gassen einer weissen Katze gefolgt, die uns den Weg zu einem neuen, unbekannten Menschen zeigte, der unendliche Bedeutung für uns erlangen sollte ? Plötzlich ist er da, der Moment der Verwandlung, der uns zu einem Anderen, einem Reiferen werden läßt, – ohne zu wissen, warum dies so geschieht und nicht anders.
Nach diesem kleinen Verweis auf das Unerklärliche und Metaphysische zurück ins wirkliche Leben und seine Verstrickungen.
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Als ich am Freitag, dem 28. Februar 1975 um halbacht Uhr morgens in London erwachte, einem diesigen Wintertag, wußte ich nicht, dass ich 48 Jahre später einen „Schutzengel“-Text schreiben würde, der diesem Tag und seinen dramatischen Ereignissen gewidmet sein sollte.
Ich war damals 25 Jahre alt, lebte in einer kleinen Wohnung im londoner Stadtteil Kensington und arbeitete bei der Sprachschule BERLITZ, wo ich versuchte irgendwelchen Managern im Einzel-Unterricht auf die Schnelle DEUTSCH beizubringen. Meine Sprachtermine, meist außerhalb in den Büros der jeweiligen Firmen, lagen in den Händen meiner heißgeliebten Head-Mistress Mrs.Rieser, einer emigrierten wiener Jüdin, die nach der Flucht in den 30er-Jahren in London eine neue Heimat gefunden hatte.
Frau Rieser, die mich sofort nach meiner Ankunft bei BERLITZ in ihr wahrlich österreichisch gebliebenes Herz geschlossen hatte, war also die Herrin all meiner Termine, und für diesen winterlichen Freitag im Februar 1975 hatte sie mich nach MOORGATE ins Britannic-House eingeteilt, wo ich einem BP-Manager (British Petrol) um 9 Uhr den Zugang zur deutschen Sprache erschließen sollte.
Meine liebe Headmistress Mrs.Rieser, war eine elegante Dame, Mitte 50, und nicht nur meine Stunden-Planerin, sondern auch die Herrin über ein Ausgaben-Budget für ihre 17 Lehrer. Sie stellte es uns frei, ob wir zu unseren jeweiligen Auswärts-Jobs mit der U-Bahn oder dem Taxi fuhren, – wir bekamen jedenfalls immer eine großzügige Spesen-Erstattung, auch ohne Belege, und so verdienten sich die Sparsamen bei jedem Außer-Haus-Termin immer ein paar Pfund zusätzlich, denn die generelle Bezahlung bei BERLITZ war eher dürftig.
Ich schaute also um halbacht Uhr morgens aus meinem Fenster in Kensington, Philbeach-Gardens 92, und stellte fest : Es regnet in Strömen.
In meinem Leben spielte die Eitelkeit immer eine sehr große Rolle. Natürlich wollte ich nicht nur der Schönste, der Klügste, der Originellste und auch der Charmanteste sein, sondern auch äußerlich was hermachen und dem entsprechend elegant war auch immer mein Outfit. Für diesen Freitag-Morgen hatte ich mich neben meinen üblichen und unverzichtbaren BALLY-Stiefeletten für einen taubengrauen, leicht bläulichen Seidenanzug entschieden, mit kleinen fein gebügelten Stulpen und darüber einen bräunlichen Kamelhaar-Mantel mit BURBERRY-Schal und Hut, – schließlich wollte ich bei den Managern von BP, wo ich um 9 Uhr erscheinen sollte, nicht den Eindruck hinterlassen, ich sei ein hungerndes Armutschkerl, sondern ihresgleichen, sowohl in Bezug auf Bildung, wie auch auf das äußere Erscheinungsbild.
Um 8 Uhr, nach dem Frühstück, sah ich nochmals aus dem Fenster und es war offensichtlich, dass es noch mehr regnete als eine halbe Stunde zuvor, und auch ein unangenehmer Wind fegte durch die Strassen. Zur U-Bahn-Station Earl’s-Court waren es zu Fuß fast 10 Minuten.
Sollte ich meine schönen Schuhe, meinen eleganten Anzug, meinen teuren Mantel wirklich der Unbill des Londoner Schlecht-Wetters ausliefern ? Mitnichten ! Der Himmel entschied diesen Morgen zum TAXI-Tag.
Von Kensington nach Moorgate waren es etwa 7,5 Meilen (12 km), und neben meiner Eitelkeit war auch noch mein Hang zur Bequemlichkeit ausschlaggebend dafür, dass ich mich für ein Taxi zur Anreise ins Britannic-House entschied. Wie sich später herausstellen sollte, war dies eine der klügsten Entscheidungen meines Lebens.
Also raus aus dem Haus und rein ins Taxi, Regenschirm zusammengeklappt und Leder-Aktentasche auf dem Schoß, ab nach Moorgate zu British-Petrol.
Etwa zur gleichen Zeit, als ich in Kensington ins Taxi stieg, übernahm ein gewisser Leslie Newson als „Driver“ seinen U-Bahn-Triebwagen, um diesen ebenfalls nach Moorgate zu steuern. Er war 56 Jahre alt, seit 6 Jahren bei der London-Tube angestellt, ein unauffälliger Mensch mit wenigen sozialen Kontakten, immer pünktlich und laut Beschreibung verläßlich wie ein Uhrwerk.
In dieser U-Bahn, dem „Train 272“, befand sich auch noch ein 18-jähriger Schaffner mit dem Namen R. P. Harris. Er war ein Fan des londoner Fußball-Clubs „Queens Park Rangers“ und nachdem er die etwa 130 Fahrgäste in der 3-teiligen U-Bahn-Garnitur flüchtig kontrolliert hatte, begab er sich in das kleine, unbenützte Führerhaus am Ende des Zuges, um sich dort in der mitgebrachten Zeitung über die Spiele des kommenden Wochenendes zu informieren.
Die Moorgate-Tube-Station (ca.20 m unter der Erde) war zu dieser Zeit auf jenem Geleise, auf dem der besagte „Train 272“ mit Leslie Newson als „Driver“ und dem „Guard“ R P. Harris fuhr, ein Kopfbahnhof. Und „Kopfbahnhof“ bedeutet, am Ende des Geleises auf dem der „Train 272“ mit ca. 40 Meilen Geschwindigkeit unterwegs war, war eine WAND.
Es geschah exakt um 8 Uhr 46 : Der U-Bahn-Triebwagen fuhr ungebremst und in selbstmörderischer Absicht von Driver Leslie Newson mit vollem Tempo in die Wand.
Der Fahrer Leslie Newson und weitere 42 Personen waren auf der Stelle tot, 87 Personen wurden schwer verletzt, der 18-jährige Guard R P. Harris wurde nur leicht verletzt, da er im hintersten Teil des Triebwagens, im unbenutzten Führerhaus mit seiner Zeitung an der Wand lehnte und den Sportteil von „The SUN“ las.
Sie ahnen es : Der U-Bahn-Triebwagen „Train 272“ wäre genau MEINE U-Bahn gewesen, mit der ich in MOORGATE angekommen wäre, 14 min vor 9 Uhr, wenn ich die TUBE genommen hätte !
Danke, oh LORD !
Aber mein persönlicher SCHUTZENGEL, der Abgesandte des großen Unerforschlichen, hat es ausgerechnet an diesem denkwürdigen Freitag-Morgen derart „regnen lassen“, dass ich dank meiner Eitelkeit und Bequemlichkeit das TAXI nahm.
Meine Conclusio damals war : SPARSAMKEIT kann TÖDLICH sein !
Als ich etwa 3 Minuten vor 9 Uhr in meinem Taxi in Moorgate ankam, waren bereits unzählige Rettungs- und Feuerwehrwagen im Anmarsch. Überall blinkten schon die Blaulichter, Menschenmassen drängten aus und in die U-Bahnstation MOORGATE. Chaos pur.
Ich betrat das Britannic-House, mich mühsam durch die Menschenmenge drängend. Im Büro von BP war die Nachricht von dieser unfassbaren Tragödie bereits bei der gesamten Belegschaft angekommen. An Unterricht oder Arbeit war nicht zu denken. Die Dame am Empfang von BP telefonierte kurz mit dem Management, – und schickte mich gleich wieder nach Hause. Alles abgesagt.
Es regnete immer noch in Strömen, die Blau- und Rotlichter der Rettungswagen spiegelten sich auf der nassen Strasse, über Lautsprecher wurde dazu aufgerufen die Ruhe zu bewahren und sich zu enfernen, wenn man nicht zu den Rettungskräften oder der Exekutive gehörte. Ein paar Meter weiter betrat ich ein fast leeres Pub, da alle auf die Strasse geeilt waren. Ich setzte mich. Nach und nach kamen die Menschen wieder zurück, – und mit ihnen die ersten, vereinzelten Nachrichten. Schnell war von 100 Toten die Rede. Mir standen die Haare zu Berge.
UUUUUUUUUUUUUUUuuuuuuiiihhhhhh, – das war knapp !
Ich versuchte mich zu beruhigen. Zum ersten Mal in meinem Leben bestellte ich mir einen Whisky. Medien-Leute stürmten das Lokal, wollten telefonieren, befragten die Gäste, ob und was sie wüßten, und suchten Betroffene, die jemanden erwartet hatten, und der nicht gekommen war.
Mir wurde schlecht. Erstens von dem Whisky, den ich auf fast leeren Magen nicht vertrug, und auch vom Gedanken, dass ich nur ganz knapp dem Tod entronnen war.
Mir wurde wiedereinmal schlagartig bewußt : Gott liebt mich !
Warum hat es geregnet ? Gerade heute ! Warum kam das Taxi so schnell, sodass ich nicht in Versuchung kam, doch noch zu Fuß zum „Earl’s-Court“ zu laufen ? Warum hatte ich für diesen Tag mein nobelstes Outfit gewählt, das ich dem Regen auf keinen Fall aussetzen wollte ? Warum nur, warum ? Fragen über Fragen . . .
Eigentlich wollte ich meine Head-Mistress Mrs.Rieser anrufen, aber es war völlig unmöglich an ein Telefon heranzukommen, weder im Lokal noch außerhalb an einer der Telefonzellen.
Ich verließ das Pub, versuchte mich und meine Aktentasche mit dem Regenschirm zu schützen, bog um ein paar Ecken und fand nach einigem Gewinke ein freies Taxi, das mich Richtung Oxford-Street zur BERLITZ-Zentrale brachte.
Ich stieg aus dem Taxi und fuhr mit dem Lift hoch zu unserer Sprachschule im 5.Stock. Längst hatte sich das tragische U-Bahn-Unglück in ganz London und natürlich auch bei BERLITZ verbreitet. Es war noch immer von über 100 Toten und Verletzten die Rede. Das Entsetzen war allgegenwärtig.
Ich wankte ins Büro von Mrs.Rieser, meiner Chefin, und als ich eintrat, sprang sie auf, fiel mir um den Hals und küßte mich rechts und links auf die Wange: „HUGO ! Sie LEBEN ! Ein WUNDER ! Unsere Gebete wurden erhört !“ Ihre Freundin und Stellvertreterin Mrs.Hoffer umarmte mich ebenfalls und sagte : „Hugo, das Schicksal war Ihnen gnädig ! Dank dem Allmächtigen. Komm, setzen Sie sich, – wie geht es Ihnen ?“
Ich sank auf einen Sessel und dann liefen mir plötzlich die Tränen über die Wangen. Es war der Blick einer alten, weisen Seherin, der mich mitten ins Herz traf, als Frau Hoffer mein Haupt in ihre Hände nahm, und zu Mrs.Rieser sagte : „Rosa, siehst Du nicht ? Hugo hat einen schweren Schock erlitten ! Schick ihn sofort nach Hause !“ – „Ja, ja, jetzt seh ich’s auch, Hannah ! Hugo, hören Sie her, Sie fahren jetzt sofort nach Hause, legen sich nieder und nehmen sich eine Woche frei. Wir können ohne weiteres ein paar Tage auf Sie verzichten ! Machen Sie sich keine Sorgen, ich regel das.“
Ich weinte bitterlich. Zu tief saß mir das Erlebte noch in den Knochen. Die beiden Damen saßen links und rechts von mir, streichelten meine Hand, und versuchten mich zu beruhigen.
Eruptiv, wie bei einem Vulkanausbruch, war mir gerade bewußt geworden, dass ich tatsächlich nur knapp dem Tod entronnen war, und wenn das Wetter besser gewesen wäre, dann wäre ich jetzt wahrscheinlich tot. Rosa und Hannah legten ihre Köpfe an meine Schulter und sprachen ein jiddisches Gebet und das monotone Murmeln der Verse hob mich plötzlich auf eine höhere emotionale Ebene. Die Farben im Raum veränderten sich. Alles was rosa, hellviolett und türkisgrün war begann zu leuchten, und alles was braun, beige, gelb, rot oder schwarz war, verlor an Intensität und Sättigung und wurde grau.
Ich nahm diese sich steigernde, psychische Veränderung zwar wahr, wußte aber nicht, dass ich gerade dabei war in eine veritable Psychose abzuheben.
Langsam stand ich auf, verabschiedete mich wortlos von den beiden Damen und schloss die Tür hinter mir. Eine mystische Gewissheit bemächtigte sich meines Geistes, eine höhere Instanz ergriff von mir Besitz, und plötzlich wußte ich, dass ich Rosa und Hannah, die stabilen Stützen meines englischen Lebens, niemals wiedersehen würde.
Auf der Strasse war alles verändert, eine Art Paranoia erfaßte mich. Alle Menschen schienen mich anzusehen und mir schweigend mit geheimen Zeichen seltsame Botschaften senden zu wollen.
Eine tiefe Einsamkeit und Unbehaustheit überkam mich. Ich erschrak bis ins Innerste. Die Gesichter der Passanten verschwammen und verformten sich, ihre Gesten wirkten bedrohlich, und ich wollte nur noch fort, fort, fort.
Meiner Panik gehorchend, geradezu flüchtend, betrat ich das nächste Geschäft und setzte mich auf einen Sessel. Es war ein nobler Shoe-Store, mit unregelmäßigen schwarzen und weißen Fliesen am Boden und einer dezenten warmen Beleuchtung, die im krassen Gegensatz zum irritierend kalten Fußboden stand.
Eine Verkäuferin näherte sich mir und fragte : „May I help you ?“ Sie war etwas pummelig, klein mit festen Beinen und einem kurzen, dicken Hals. Und die Brille, die sie trug, hatte so dicke Gläser, dass ihre Pupillen wie Fischaugen wirkten. Ihre Stimme jedoch war von einer Wärme und Sanftheit, wie ich sie nur von jenen auserwählten Krankenschwestern kenne, die sterbende Kinder auf ihrem letzten Weg begleiten.
Sie sah mich an.
Was wollte ich ? Warum war ich hier ? Ich wußte es nicht.
Plötzlich flüsterte eine fremde Stimme in meinem Kopf : „Die große Verwandlung ist da ! Schwarz ist jetzt weiß, und hell ist dunkel und umgekehrt. Achte darauf, denn jeder deiner Schritte ist von größter Bedeutung !“
Die Wände begannen sich zu biegen, die Lampen verformten sich, der Boden schwankte, und ich mußte mich festhalten, um nicht vom Stuhl zu fallen.
Aquarell und Zeichnung von Hugo Heikenwaelder
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Zur Verkäuferin sagte ich fragend : „Haben Sie auch Socken ? Schwarze und weisse ?“ – „Ja, haben wir, einen Moment, ich bring Sie Ihnen.“ – Sie verschwand und kam nach 2 Minuten mit den Socken wieder. Ich zog mir die Schuhe aus und zog mir auf dem linken Fuß einen weissen Socken an und auf dem rechten einen schwarzen. Dann fragte ich die Dame, ob sie eine Schere für mich hätte. Sie holte eine und gab sie mir. Ich schnitt von den beiden verbliebenen, unterschiedlichen Socken jeweils die Zehen ab und stülpte den schwarzen Socken über meine linke Hand und den weissen über meine rechte Hand und schob sie nach hinten bis zum Handgelenk. Eine innere Stimme gab mir diese seltsame Anweisung, der ich unverzüglich gehorchte. Ich holte meine Brieftasche hervor und gab der verwunderten Verkäuferin einen 10-Pfund-Schein. Sie ging zur Kasse und brachte mir das Restgeld. Dann beugte Sie sich zu mir herunter und fragte leise : „Kann ich etwas für sie tun ? Sie wirken etwas müde. Soll ich Ihnen ein Taxi rufen ?“ – „Ja“, sagte ich, „das wäre sehr freundlich von Ihnen.“
Sie ging zum Telefon und rief ein Taxi. Danach kam sie wieder zu mir zurück, legte ihre Hand auf meine Schulter, beugte sich zu mir herunter und sah mir geradewegs in die Augen. Ihr Gesicht verwandelte sich in diesem Augenblick wie in einer göttlichen Epiphanie in das Antlitz einer überirdischen Raffael-Madonna und unter den Tränen meiner Ergriffenheit sagte ich zu ihr : „Ich bin gekommen, um Dir zu sagen, dass Du schön bist, unendlich schön, – und der Allmächtige hat Dich und Deine Schönheit wahrgenommen.“ – Sie sank nieder auf den Boden und fing hemmungslos zu schluchzen an : „Noch nie, noch nie im Leben, hat mir jemand etwas so Schönes gesagt ! Ich danke Ihnen !“
„Und ich habe Dir noch etwas zu sagen : Vergiß all die Tränen, die Du wegen Deines Äußeren vergossen hast. Das Strahlen Deiner Seele ist einer Heiligen würdig !“
Ich erhob mich langsam, um das Geschäft zu verlassen, und achtete darauf, dass ich mich dabei nur auf den weissen Fliesen bewegte und den schwarzen aus dem Wege ging. Am Ausgang drehte ich mich noch einmal um, winkte der immer noch am Boden sitzenden und weinenden Verkäuferin zu, und machte dabei eine segnende Handbewegung in Form eines Kreuzes.
Dann bestieg ich das Taxi, das gerade angekommen war.
Die Magie hatte aber noch nicht ihren Höhepunkt erreicht.
Der Taxifahrer sah mich an und fragte : „Philbeach Gardens 92 ?“ Mich traf der Schlag ! Wieso kannte dieser Mensch meine Wohnadresse ? Ich war sicher, dass soeben irgendwelche übernatürlichen Kräfte diese Erde übernommen hätten, und dass auch ich nun ein Zahnrad in dieser neuen, kosmischen Mechanik sei. Der Taxi-Fahrer war gut gelaunt und er erzählte mir, als er mein völlig erstauntes Gesicht sah, dass er ein halber Autist sei, sich alle Gesichter und Adressen merken würde, die er jemals gefahren habe, und dass er mich vor 3 Monaten schon einmal von meiner Wohnadresse abgeholt hätte. Ich schwieg. War dies alles ein Traum ? Ein guter Traum ? Ein böser Traum ?
Meine Verwirrung war total. War ich in einer Zwischenwelt gelandet ? Oder war ich tatsächlich in eine andere, neue Welt versetzt worden ?
Ich bezahlte, stieg aus und betrat meine Wohnung. Ich legte mich auf’s Bett und schloss die Augen.
Es war mir alles zuviel. Was ging hier vor ? Hatte ich den Verstand verloren ? Entspannung war angesagt.
Ich lag vielleicht eine halbe Stunde rücklings auf dem Bett, als plötzlich das Telefon läutete. Ich hob ab. Es war meine Mutter, die mich aus Dornbirn im fernen London anrief.
Kaum hörte ich die vertraute Stimme von Mama, beruhigte sich meine Seele und mein Geist auf der Stelle.
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Ich glaube, die Verbindung von Müttern zu ihren Söhnen birgt ein großes Geheimnis, es besteht eine besondere Tiefe in solchen Beziehungen, die wohl ewig und archaisch sind, wenn das Fundament die Liebe ist.
1975 war es nicht üblich lange Telefonate mit dem Ausland zu führen, höchtens zu besonderen Anlässen wie Geburtstag oder Weihnachten, wenn man nicht zu Hause sein konnte.
Meine Mutter fragte mich, wie es mir gehe, und ich erzählte ihr von der U-Bahn-Katastrophe von heute morgen, und dass ich auch den Tod hätte finden können.
Ihre Stimme hatte schon immer etwas sehr Beruhigendes und ihre Worte wirkten bei mir wie ein VALIUM, das einen wieder herunterkommen läßt, auf die Ebene der Wirklichkeit.
Dann, nach einer kleinen Pause, sagte meine Mutter plötzlich : „Huxi, ich muss Dir etwas Trauriges sagen : Heute nacht ist Oma gestorben. Vati hat sie heute früh um 9 tot in ihrem Bett gefunden. Sie ist einfach eingeschlafen. Mit 89 muss man leider damit rechnen. Gestern abend war sie zwar schon sehr müde, aber das Achtel Rotwein hat ihr noch geschmeckt. Bitte komm nach Hause, sie hat Dich sehr geliebt !“
Mir wurde ganz schwummerlich. War das Zufall ? Oder hatte sie eine Ahnung ? Gab sie vielleicht gar ihr Leben für das meine ?
Es gibt so viel Unerklärliches zwischen Himmel und Erde, dass es einem den Atem raubt, wenn man ihm zu nahe kommt.
Plötzlich war mir hier alles fremd. England, London, die Menschen, die verdammte U-Bahn, – einfach alles.
Schluss. Aus. Ende. – Ich hatte genug. Ich wollte nur noch Eines : Weg von hier – nach Hause !
Eine halbe Stunde nach dem Telefonat rief ich am Flughafen in Heathrow an und buchte für den nächsten Tag, Samstag den 1. März 1975, eine Linien-Flug nach Zürich.
Ich packte alle meine Sachen in meine 2 Koffer, hinterlegte meinen Wohnungsschlüssel bei der Hausmeisterin, und flog Richtung Heimat. Mein Vater holte mich in Zürich ab und wir fuhren gemeinsam nach Dornbirn in mein Elternhaus.
Ein paar Tage später begruben wir unsere Oma Maria Heikenwälder,*1886 +1975.
Ich habe England seitdem nicht mehr betreten.